Das für Kafka charakteristische gestische Schreiben, das allzu oft als Ausdruck von Sprachlosigkeit herhalten soll, verwehrt sich dem Erzählerischen, gerade dort, wo es selbst Erzählung sein will. Damit richtet sich das Erzählerische gewissermaßen gegen sich selbst, kippt an vielen Stellen ins Theatralische. Und zwar um den Preis, dass der Leser in der selben Unsicherheit zurückgelassen wird wie der jeweilige Protagonist. Weil auch der Erzähler in Kafkas Schriften meist nicht mehr preisgibt als die Protagonisten selbst wissen, wird der Leser zur Deutung gezwungen, wohlwissend, dass seine Interpretation keine vollständige Sicherheit zulässt. Bei aller scheinbaren Offenheit des Werkes, die sich in den prominenten Interpretationsversuchen (Psychoanalyse, Existenzialismus, Kabbala, Marxismus) ausdrückt, ist dennoch gerade eines zu konstatieren: Dass es die Gesellschaft ist, wie sie Kafka insbesondere im Process, aber auch in den anderen Romanentwürfen (Das Schloss und Der Verschollene) skizziert, die diese Unsicherheit für die Protagonisten erst produziert und die alsdann vom Autor an den Leser zurückgegeben wird. Und zwar indem er das, was erzählerisch nicht mehr beredet werden kann, durch Gestisches darstellt.
Der Process ist, entgegen populärer Behauptungen nicht die Darstellung jener anonymen bürokratischen Herrschaft, sondern vielmehr die literarische Reflexion von Gesellschaft, die der Möglichkeit nach jederzeit in den Behemoth umschlagen kann, also in jene Gesellschaft des Unstaats, wie Franz Neumann den nationalsozialistischen Racketstaat in Abgrenzung zum rechtsstaatlich verfassten Leviathan charakterisierte. Aber Kafka, und diese These soll an diesem Abend durch ausgewählte Textstellen plausibel gemacht werden, rückt dabei im Process, ähnlich wie in der Erzählung Forschungen eines Hundes, zugleich die Stellung des Juden in antisemitischer Gesellschaft in den Mittelpunkt. Denn ebenso wie über Josef K. von Beginn des ‚Prozesses‘ an das Todesurteil bereits gefällt worden war, hat man ihn, ohne dass er etwas Böses getan hätte, eines Morgens verhaftet: Jemand musste, so lautet die Mutmaßung im ersten Satz des Process, Josef K. verleumdet haben. Aus dieser Ungewissheit, ob tatsächlich eine Verleumdung vorliegt, beginnt alsdann das Prozessieren in der einzigen Gewissheit, dass nichts mehr so ist, wie es einmal war. Es ist kein Zufall, dass Kafkas Werk zuerst in Kreisen rezipiert wurde, in denen man den Antisemitismus nicht als bloße Randnotiz behandelte: In den Arbeiten Theodor W. Adornos, Günter Anders, Georges-Arthur Goldschmidts und Imre Kertész, um nur einige wenige exemplarisch zu nennen.
Es spricht David Hellbrück (Wien), der Philosophie und Katholische Theologie studiert und u. a. Redaktionsmitglied der Zeitschriften Pólemos und sans phrase ist.
Um 20 Uhr in der Laterna Magika, Günterstalstr. 37.