Dieses Buch ist ein historisches Meisterwerk. Es erscheint mit siebzig Jahren Verspätung in Deutschland, obwohl es sich bei der 1951 veröffentlichten Ausgabe des Bréviaire de la haine um die erste systematische Gesamtdarstellung des Mordes an den europäischen Juden auf der Grundlage von deutschen Dokumenten handelt. Diese Verspätung ist damit zu erklären, dass die frühe jüdische Historiographie des Holocaust im Nachkriegsdeutschland kaum Beachtung gefunden hat. Das gilt für die Forschungen und Publikationen der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission in Polen ebenso wie für die Pioniere, die in Westeuropa etwa im Umkreis des Pariser Jüdischen Dokumentationszentrums arbeiteten. Zu letzteren zählte Léon Poliakov. Ihm ist die Sicherung der von den Deutschen 1944 in Paris zurückgelassenen Gestapo-Akten zu verdanken, die die französische Anklagevertretung bei den Nürnberger Prozessen vorlegte, die im Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 zitiert wurden und auf die sich die gesamte spätere Forschung zur »Endlösung der Judenfrage« in Frankreich stützte.

 

Poliakov war von 1946 bis 1948 als Sachverständiger der französischen Delegation beim Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg tätig. Er hatte Gelegenheit, den Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher und die sogenannten Nürnberger Nachfolgeprozesse einzusehen. Gestützt auf die Nürnberger Prozessunterlagen wurde Poliakov zum ersten Historiker, der nur wenige Jahre nach den Ereignissen ein umfassendes, dokumentarisch abgesichertes Bild des Holocaust zeichnete. Was seine Darstellung heute, nach Jahrzehnten der konkurrierenden Interpretationen und Deutungen des Geschehens, lesenswert macht, ist der unverstellte Blick des Autors und die unmittelbare Konfrontation mit dem Quellenmaterial. Bewusst legte er die Dokumente und Aussagen der deutschen Täter zugrunde, um zu rekonstruieren, was geschehen war und wie es geschehen war. Letztlich ging es ihm dabei nach eigenem Bekunden um die Frage, warum die Nazis die Juden vernichten wollten. Ein oft zitierter Satz Poliakovs lautet, er habe wissen wollen, »warum man mich gemeinsam mit Millionen anderer Menschen töten wollte«. Aber sein Buch, wenngleich es sich auch mit der Psychologie der Mörder beschäftigt, beantwortet diese unvermeidliche und zugleich unbeantwortbare Frage nicht. Das einzige erkennbare Motiv ist, folgt man Poliakov, der Hass auf die Juden.

Es spricht Alexander Carstiuc (Berlin), der als Sozialpädagoge und Historiker in der Bildungsarbeit arbeitet und als Übersetzer zu den Themen Nationalsozialismus und Shoa tätig ist. Als Herausgeber hat er die Memoiren Léon Poliakovs (St. Petersburg Berlin Paris. Memoiren eines Davongekommenen, Edition Tiamat 2019) veröffentlicht und zuletzt das Buch von Annette Wieviorka: 1945. Als die Amerikaner die Lager entdeckten mitübersetzt. Um 19 Uhr im Büro des ça ira-Verlages, Günterstalstr. 37, im Hinterhof.

Buchvorstellung
Type of Event