Weingut Andreas Dilger

Urachstraße 3
79102 Freiburg im Breisgau
Deutschland

Mit Stephanie Magens-Höfflin (Südhof), Martin Geng (Obstparadies Staufen), Jannis Zentler (Gärtnerei Querbeet)

AGRIKULTURELLE TRANSFORMATION ZU EINEM ÖKOSOZIALEN ERNÄHRUNGSSYSTEM
Die jüngsten Diskussionen um Pestizide und Landwirtschaft in Baden-Württemberg sind Teil von täglich alarmierenden Nachrichten über die globale Misere in Umwelt und Politik: es geht nicht weiter wie bisher. Das hat bei vielen Bäuerinnen und Bauern Existenzängste und Abwehrreaktionen hervorgerufen.

Tatsächlich sind die Fakten allerdings eindeutig:
Landwirtschaft ist ein wesentlicher Verursacher von Insektensterben und Verschmutzung von Gewässern in Europa (Umweltbundesamt: Die Wasserrahmenrichtlinie – Deutschlands Gewässer, 2015, 2016) und hat aktuell vor allem einen negativen Einfluss auf Biodiversität, Klima und Bodenqualität (Umweltbundesamt: Umwelt und Landwirtschaft, 2018). Die Landwirt*innen wirtschaften jedoch unter Rahmenbedingungen unserer Marktwirtschaft, die blind ist für die Umwelt und die über den Maßstab Wirtschaftswachstum die Politik bestimmt. Es ist deshalb falsch, die Problematik des Insektensterbens nur auf die Landwirt*innen zu fokussieren. Schließlich wurden sie seit 70 Jahren von Politik und Markt über Ausbildung, Verwaltung und Förderung auf Intensivierung getrimmt, um überleben zu können. Ausgehend von der Not nach dem 2. Weltkrieg war die gemeinsame Agrarpolitik viel zu lange ausschließlich auf die Versorgungssicherheit in Europa ausgerichtet, die zu Überschüssen geführt und die Ernährungssouveränität des globalen Südens zerstört hat. Dieses Modell, dessen Ziel die Versorgung mit billigen Lebensmitteln war, ist überholt, ebenso die Exportorientierung, die später dazu kam.

Die Folge ist ein ungebrochener Strukturwandel: Die Zahl der Landwirt*innen sank von 38 % der Bevölkerung 1900 zu 1,5 % der Bevölkerung und ging in den letzten 10 Jahren in Europa um 25 % zurück. 4,2 Millionen Betriebe, vorwiegend kleine Höfe, schlossen von 2003 bis 2013 (Eurostat). Zudem hat die EU von 1993 bis 2013 12 % des Agrarlandes verloren (Eurostat). Verloren ging auch die Souveränität: es verstärkten sich Abhängigkeiten von wenigen, global agierenden und immer größer werdenden Akteuren in der Nahrungsmittelproduktion, Verarbeitung und im Handel.

Oft vergessen wird die kulturelle Dimension: Agrikultur – Wissen, Techniken und Traditionen, die unsere
Kultur zum Teil seit 10.000 Jahren geprägt haben – verschwindet nicht nur in der Praxis, sondern ist in der Gesellschaft und in der Werbung zu romantischen Bildern verkümmert.

Die zunehmenden ökologischen aber auch sozialen und regionalwirtschaftlichen Probleme schaffen neue Notwendigkeiten für die Landwirtschaft: Es darf künftig nicht mehr um die billige Produktion von Lebensmitteln gehen, sondern um eine neue Rolle von Bäuerinnen und Bauern als Verwalter von Ressourcen und Landschaften, die gesunde Lebensmittel erzeugen und die Vitalität der ländlichen Regionen garantieren. Der Gedanke der Fairness gegenüber Allen, die involviert sind – Landwirt*innen und Landarbeiter*innen, Tieren und Pflanzen – lokalen Verarbeitern und Händlern wird nicht nur bei Konsumenten zunehmend als wichtig angesehen, sondern muss umgesetzt werden. Diese Veränderungsprozesse können und sollen die Bäuerinnen und Bauern nicht alleine schultern: Viele sind verschuldet, um im Strukturwandel des »wachse oder weiche« mitzuhalten. Familienbetriebe werden immer mehr durch wenige Spezialisten und Ausbeutung von Lohnarbeitern ersetzt. Die Suizidrate ist höher als in anderen Berufen (siehe z.B. agrarheute 2019).

Die Transformation der Landwirtschaft muss multifunktionalen Zielen dienen: kurze Transportwege,
Klima- Wasser und Artenschutz, Verbindung zur Region, Stoffkreisläufe, Erzeugung gesunder Nahrungsmittel und weiteren Leistungen für das Gemeinwohl. Wichtig ist, dass diese agrikulturelle
Transformation der Landwirtschaft gesellschaftlich mitgetragen wird, durch faire Preise und Umorientierung des Fördersystems von Flächengröße und Rationalisierung hin zu den Gemeinwohlleistungen der Landwirtschaft, um Bäuerinnen und Bauern die Wertschätzung zurückzugeben. Das muss bei den Aus- und Fortbildungen in allen Bereichen anfangen. Wir sehen, dass es nicht um einzelne Fragen geht, sondern um das große Bild: Insektensterben, Klimawandel und der Verlust der Bodenfruchtbarkeit sind keine punktuellen Probleme, sie hängen zusammen und bedrohen unsere Lebensgrundlagen über die Landwirtschaft – keine Bestäuber mehr, keine Nützlinge mehr, keine Landwirtschaft mehr …
Summ summ summa summarum ist die aktuelle Diskussion eine Chance. Statt in Abwehrhaltungen
zu verfallen sollten wir offensiv überlegen wie unser Ernährungssystem agrikulturell transformiert werden
kann – vor Ort und global. Die Ernährungswende ist ein gesamtgesellschaftliches politisches, soziales
und kulturelles Projekt. Gehen wir es an!

Summ Summ Summ – Strategien für die agrikulturelle Neugestaltung von Landwirtschaft und Ernährung
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