Der Vortrag beschäftigt sich ausgehend von dem Phänomen der gegenwärtigen Angst vor pädophilen Übergriffen mit Aspekten der Interferenz von deutscher ‚Vergangenheitsbewältigung‘ und der kulturellen Bedeutung von Sexualität im postnazistischen Deutschland. Der Vortrag richtet dabei den Fokus darauf, inwiefern gewisse psychoanalytische Annahmen über die konflikthafte Dimension des Sexuellen hilfreich sein können, über gesellschaftliche Formationen der Sexualität Aufschluss zu geben. Insbesondere im Jahr 2013 kursierte in der Politik und den Medien die Frage: Haben wir bisher genau genug auf die von Pädophilen ausgehende Gefahr für Kinder hingeschaut? Dieser ‚geschärfte Blick‘ ist zentrales Element einer derzeit allgegenwärtigen panischen Verdachtsstimmung, wie sich exemplarisch anhand von journalistischen Publikationen zur Aufdeckung von Pädophilen zeigen lässt. Jeder Mann steht hier unter Verdacht – denn, so das hier entworfene Bild, Pädophile tarnen sich als Jedermann. Der empfohlene ‚geschulte Blick‘ verspricht den Lustgewinn, eben diese Tarnung aufzudecken und sich selbst auf diesem Wege vom ‚Pädo‘ zu unterscheiden. Genossen wird in diesem Akt auch ein Idealbild von der Unschuld des eigenen Begehrens. Von hier ausgehend skizziert der Vortrag Etappen der Transformation der Sexualmoral im postnazistischen Deutschland. Stets wenden sich die Bedeutungen der Verknüpfungen von Sexualität mit der deutschen ‚Vergangenheitsbewältigung‘ – Vorstellungen von der sexuellen Gefährdung von Kindern waren in diesem Zusammenhang stets zentral. Vor diesem Hintergrund erweist sich die aktuelle Sorge um den Schutz von Kindern und die Panik vor Pädophilen nicht nur als ein Symptom des derzeitigen verhandlungsmoralischen Ideals einer unschuldigen Sexualität, sondern auch, wie dieses mit der Geschichte deutscher ‚Vergangenheitsbewältigung‘ verwoben ist.
Es spricht Sonja Witte, Mitarbeiterin an der International Psychoanalytic University (IPU) Berlin. Sie arbeitet zu Fragen der gesellschaftlichen Bedeutung von Sexualität, der postnazistischen Kultur(-industrie) und des ideologischen Gehalts von gegenwärtigem Konsum. Sie ist aktiv bei den „les madeleines“, der krIPU und der Zeitschrift „Extrablatt – Aus Gründen gegen fast Alles“.
Um 20 Uhr in der Laterna Magika, Günterstalstr. 37