Für Marx und den Marxismus nach Marx ist der Zusammenhang von Krise und befreiender theoretischer sowie praktischer Kritik noch selbstverständlich. Daß der dialektische Widerspruch gegen widerspruchsvolle Verhältnisse ohne den Kontext “revolutionärer Praxis” möglich sei, ist für Marx in der Epoche des Liberalismus undenkbar. Der Marxismus der Zweiten Internationale erkennt, in der Epoche des Imperialismus, die Möglichkeit der Kritik in der befreienden Kraft der Produktivkraft-Entwicklung. Jeweils scheinen fundamentale Krisen des “Systems der bürgerlichen Ökonomie” den gesellschaftsgeschichtlichen Fortschritt zum “Verein freier Menschen” zu produzieren.
Aber schon 1923 erkennen Karl Korsch und Georg Lukács, nach der gescheiterten Revolution, eine Krise der Arbeiterbewegung und des Marxismus. Zwischen 1926 und 1933 explizieren Max Horkheimer und Wilhelm Reich die “Ohnmacht”, die “Niederlage der deutschen Arbeiterklasse”. Im Rekurs auf die Psychoanalyse wird am Vorabend und nach der Großen Depression von 1929/33 die Auflösung des Zusammenhangs von Krise und revolutionärer Kritik: die nationalsozialistische “konformistische Revolte”, reflektiert. Der Konformismus: das ist eine Volksgemeinschaft, in der der Einzelne ohne gesellschaftliches Bewußtsein, daher zu gesellschaftlich-solidarischem Widerspruch und Widerstand unfähig ist. Die Gemeinschaft erweist sich als irrationaler Zusammenhang entindividualisierter, autoritärer Charaktere, die allenfalls die Verallgemeinerung, nicht die Abschaffung gesellschaftlicher Repression realisieren. So schreitet der an der Psychoanalyse gebildete Marxismus von der Kritik der Politischen Ökonomie fort zur Kritik des irrationalen Rationalismus – zur “Kritik der instrumentellen Vernunft” – und zur Kritik der bürgerlichen Anthropologie. Ohne die gesellschaftlich gegründete Idee des Individuums, das sich als “ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse” weiß, ist – erkennen die Kritischen Theoretiker – die einst erhoffte “proletarische Erhebung” verstellt. Daher bedürfe es der praktisch gerichteten Aufklärung des “Aufstiegs und Falls des Individuums”.
Prof. Dr. Gerhard Stapelfeldt (Hamburg) lehrte von 1979 bis 2009 am Institut für Soziologie der Universität Hamburg. Mehrere seiner Bücher erschienen im ça ira Verlag.