Die Aktivitäten der DDR-Bevölkerung zur Selbstbefreiung vom SED-Regime im Herbst 1989 wären fast schon vergessen, gäbe es nicht die Jahrestage des Mauerfalls und die von Politik und Medien gefeierten „Erfolge der gelungenen deutschen Einheit.“ Doch die Ereignisse vom Herbst 1989 werden vom Mainstream üblicherweise auf Mauerfall und „deutsche Einheit“ reduziert; die AfD verkehrt das Einreißen von Mauern der Herrschaft und die Öffnung der Gesellschaft gar ins Gegenteil von völkischer Ausgrenzung und Abschottung.
Weder die massenhafte Selbstorganisation hunderttausender Menschen in Bürger_innen-Bewegungen oder in neuen frauen- und umweltpolitischen Initiativen, noch gar der Verfassungsentwurf für eine demokratische DDR kommen in den offiziellen wie rechtsradikalen Erzählungen über 1989 vor. Völlig vergessen, selbst bei Linken und Gewerkschaften, ist der demokratische Aufbruch in den Betrieben: die Absetzung von Betriebsdirektor_innen oder BGL-Vorsitzenden, das Ende der SED- und Kampfgruppenstrukturen oder die Gründung demokratischer Interessenvertretungen in den Betrieben.
In der Veranstaltung wollen wir der Frage nachgehen, welcher Zusammenhang zwischen der Demokratiebewegung in den Betrieben und der demokratische Revolution insgesamt bestand und über die vielfältigen demokratischen Entwicklungen in den Betrieben informieren. Ebenso soll der Frage nachgegangen werden, wie aus dem selbst organisierten emanzipatorischen Aufbruch vom Herbst 1989 im Winter 1990 eine konservative „Wende in der Wende“ hervor ging.
Bernd Gehrke war Mitbegründer der Vereinigten Linken in der DDR. Er publizierte u.a. gemeinsam mit Renate Hürtgen das Buch “Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989: Die unbekannte Seite der DDR-Revolution. Letzte Bücher: “Dokumente der Initiative Ostdeutscher und Berliner Betriebsräte, Personalräte und Vertrauensleute”, Berlin 2017 sowie mit Gerd-Rainer Horn (Hrsg.): “1968 und die Arbeiter. Studien zum „proletarischen Mai“ in Europa”, 2. Aufl., Hamburg 2018. Diskussion – Analysen – Dokumente”