In der „Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“, Freuds synoptisches Spätwerk, findet sich, gleichsam in eine Formel gefasst, das Programm der Psychoanalyse als Aufklärung und Therapie: „Ihre Absicht ist es ja, das Ich zu stärken, es vom Über-Ich unabhängiger zu machen, sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern und seine Organisation auszubauen, so dass es sich neue Stücke des Es aneignen kann. Wo Es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee.“ Nicht dass Freud das „Schicksal der Partialtriebe“ bei der Trockenlegung der régions humides übersehen hätte. Im Gegenteil, eine seiner bedeutendsten Entdeckungen ist ja die infantile Sexualität. Aber anders als in Form von Unterdrückung, i.e. Verdrängung und Sublimierung, endlich der Zentrierung der vielstrebigen Partialtriebe in Richtung auf den zielstrebigen, fortpflanzungsgeeichten Coitus, schien Freud die das Ich bildende Kulturarbeit weder denkbar noch machbar. Das hat seinen wesentlichen Grund darin, dass der Schöpfer der Psychoanalyse Halt gemacht hat vor der gesellschaftstheoretischen Entzifferung des „Realitätsprinzips“, dem mächtigen Widerpart des „Lustprinzips“. An einer unscheinbaren Stelle hat Adorno, „Aus Anlaß einer Lesung von Hans G. Helms“ jene Programmformel der Psychoanalyse aufgegriffen, um sie zu konterkarieren; nicht zufällig im Kontext ästheto-theoretischer Einlassungen: „Nach der Sprache der Psychoanalyse gehörten im emanzipierten Werk Ausdruck und Konstruktion so zusammen wie Es und Ich. Was Es ist, soll Ich werden, sagt die neue Kunst mit Freud. Aber das Ich ist von seiner Kardinalsünde, der blinden, sich selbst verzehrenden und das Naturverhältnis ewig wiederholenden Herrschaft über die Natur nicht zu heilen, indem es auch die inwendige Natur, das Es sich unterwirft, sondern indem es mit dem Es sich versöhnt, wissend und aus Freiheit es dorthin begleitet, wohin es will. Wie der richtige Mensch nicht der wäre, welcher den Trieb unterdrückt, sondern einer, der ihm ins Auge sieht und ihn erfüllt, ohne ihm Gewalt anzutun und ihm als einer Gewalt sich zu beugen, so müßte das richtige Kunstwerk heute zu Freiheit und Notwendigkeit modellhaft sich verhalten.“ Es ist schon so, wird aber gerne übergangen: Die gesellschaftskritische Psychologie bei Marx und die konservative Anthropologie Freuds klingen nicht so ohne weiteres zusammen. Aus den Dissonanzen hat die Kritische Theorie ihre Funken geschlagen. Im Wege eines Streifzuges soll Adornos Lesart der Psychoanalyse, seine Diagnose der „entstellten Vielheit des Triebes“ infolge der Kardinalsünde des hyperidentischen Ichs als Herrschaftsform, konturiert werden.
Prof. Dr. Friedhelm Kröll (Nürnberg) lehrte Soziologie an der Universität Wien und ist Autor u.a. von Gruppe 47, Das Verhör. Carl Schmitt in Nürnberg und Die Archivarin des Zauberers. Ida Herz und Thomas Mann.