Nicht erst seit dem 7. Oktober macht die postkoloniale Linke immer wieder durch ein systematisches Identitätspostulat auf sich aufmerksam: Über die Behauptung historischer Kontinuitätslinien und Kausalitäten begreift sie die Verbrechen des Kolonialismus und die Shoah lediglich als verschiedene Erscheinungen eines Immergleichen. Diejenigen, die sonst Partikularität und Differenz geradezu anbeten, werden in Bezug auf die Shoah von einer auffälligen Wut der Nivellierung erfasst. Wo sich postkoloniale Theorie mit dem Nationalsozialismus befasst, ist die Gleichsetzung von Herrschaft und Vernichtung ihr wesentliches Merkmal. Was nicht ins eigene „Narrativ“ passt – die Spezifik des Holocaust – wird mittels dieser Gleichsetzung passend gemacht. In diesem Sinne bemüht unter anderem der Historiker Dirk Moses einen vermeintlich kritischen Begriff des Staates, aus dessen destruktiver Logik alle Formen der Massengewalt der letzten Jahrhunderte abzuleiten seien. Was vorderhand als Kritik des Staates erscheinen mag, entpuppt sich indes als ein Unterfangen, das der Eingemeindung der Shoa in den kolonialen Kontext und letztlich der Delegitimierung Israels dient. Gegen Moses als einem Repräsentanten postkolonialer Ideologie wird der Vortrag zeigen, dass die Shoa keineswegs als bloßes Staatsverbrechen begriffen werden kann. Weder das weltanschauliche Selbstverständnis der Nationalsozialisten noch die Praxis der Vernichtung sind mit Moses‘ rationalisierenden Begriffen zu fassen. Vielmehr muss das Wesen des Nationalsozialismus als ideologiegetriebene Transgression des Staates auf die Vernichtung hin bestimmt werden.
Zum Referenten:
Patrice Schlauch ist Autor bei der Gruppe fractura: www.fractura.online
